Kira_Taszman | Monday, der 24. February 2014
Wie erzählt man von einem außergewöhnlichen Schicksal, noch dazu, wenn es sich dabei um die tragische Lebensgeschichte der eigenen Mutter handelt und wenn das Erzählen vor einer Kamera stattfindet? Ester Noter ist Zeitzeugin und erzählende Protagonistin von Ivette Löckers 20-minütigem Dokumentarfilm VOM (ÜBER)LEBEN DER SONJA WOLF, der auf realeyz.tv zu sehen ist. Über das Schicksal ihrer Mutter Sonja Wolf berichtet Ester Noter ausführlich und sachlich, ohne Gefühlsausbrüche. Gefühllos ist sie jedoch nicht, eher versteckt sie ihre Emotionen hinter einem bescheidenen Lächeln. Das ist ihre Art, von der Mutter zu berichten, deren Lebenslauf von doppelter Tragik ist, weil sie in das Getriebe zweier – wenn auch auf unterschiedliche Weise – verbrecherischer totalitärer Regimes geriet.
Als Tochter deutscher Juden 1934 im Alter von 10 Jahren in die Sowjetunion emigriert, erlebt Sonja Wolf, wie ihr Vater im vermeintlich sicheren „Arbeiter- und Bauernstaat“ Opfer der stalinistischen „Säuberungen“ wird, sprich, wie der NKWD ihn ermordet. Eben dieser NKWD wird die noch nicht erwachsene Sonja später gegen ihren Willen als Informantin verpflichten. Doch welche Wahl hatte Sonja, die heimatlose Waise? Sonjas Mutter verübt nach dem Tod ihres Mannes Selbstmord, und Sonja selbst wird wird nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion nach Kasachstan verbannt (wo auch Ester 1944 geboren wird). Der stalinistische Staatsapparat sieht in Sonja auf einmal die potenziell gefährliche Deutsche – dass sie als Jüdin per se zum Opfer der Nationalsozialisten geworden wäre, wird ausgeblendet. Als Informantin ist sie für den Überwachungsstaat aber gut genug.
Für Sonja geht es fortan nur noch um das Überleben. In Kasachstan sind Arbeit und Nahrung knapp, ihr Baby überlebt in der Kälte nur durch ein Wunder. Danach werden Mutter und Tochter drei Jahre getrennt: Ester und ihr Vater siedeln nach dem Krieg nach Litauen um, Sonja kommt ins Lager in Kasachstan. Dort überlebt sie nur durch Willen – und auch Geschick.
So erzählt Ester Noter von einer Mutter, die sie nicht nur durch die räumliche Trennung lange als Fremde ansah. Auch charakterlich unterschieden sich die beiden. Die schöne Sonja war ein Lebemensch, fröhlich und extrovertiert, und stand gern im Mittelpunkt. Ester dagegen sagt, sie komme nach dem Vater – eher zurückhaltend. Diese Zurückhaltung macht ihre Schilderung jedoch so wertvoll. Sie stellt sich damit in den Dienst ihrer Mutter, überlässt ihr – erneut – das Rampenlicht, vermittelt aber mit ihrer Beschreibung der Zerrissenheit Sonjas auch ein wichtiges Kapitel Zeitgeschichte. Sonja – man sieht sie auf Fotos zu unterschiedlichen Epochen ihres Lebens – hat sich selbst ihre Zusammenarbeit mit dem NKWD nie verzeihen können. Obwohl sie versuchte, nur nichtige Informationen zu liefern, stürzte sie eine andere Familie ins Verderben.
Diese Verfehlung und das konstante Gefühl der Unfreiheit und Bedrohung in der durch ihre Willkür so lebensgefährlichen Stalin-Ära werden Sonja auch später im israelischen Exil, ihrer letzten Lebensstation, so stark belasten, dass auch sie keinen anderen Weg als den Freitod für sich sieht. Erst in der Schilderung dieses Ereignisses erlaubt sich Ester Noter, von ihren Gefühlen zu berichten, und man gönnt es dieser bescheidenen und tapferen Frau, die ihre eigenen Leiden kaum erwähnt. Denn von Ester selbst erfährt man in dieser wichtigen Kurzdoku relativ wenig, ihrer Mutter jedoch schafft sie mit ihrer Erzählung ein bleibendes Denkmal.
Kira Taszman
Google+