Miete_Steinmann | Wednesday, der 5. March 2014
Für ihre erste Performance zerquetschte sie mit ihren Füßen sieben auf einen Haufen gestapelte Tomaten: die berühmte Performance-Künstlerin Hilde Schneemann. In seltenen Aufnahmen ist sie als Protagonistin von Miriam Hutters kurzem Dokfilm HILDY, HILDY! zu erleben, der exklusiv auf realeyz.tv läuft. Schneemann gibt darin selbst zu, dass ihr erster Ausflug in die Kunst einfach gehalten war, aber provokant sei er auch gewesen, insistiert sie. Denn für ihre Kunst macht Hilde Schneemann keinerlei Kompromisse, nimmt weder auf Menschen noch auf vorherrschende Moralvorstellungen Rücksicht.
Zu sehen ist Schneemann in HILDY, HILDY meist in dem legendären Schwarzweiß-Interview von 2003, in dem sie über ihre Laufbahn, ihre Kindheit und ihre Kunst reflektiert. Die junge Frau trägt ganz offensiv ihre stattliche Brille zur Schau, lächelt mal scheu, mal spitzbübisch, betrachtet ihr Wirken so skeptisch wie selbstbewusst. Dass sie das Zeug hatte, andere Menschen stark zu berühren, ja, sogar zu überwältigen, merkte sie bereits als Kind in dem Chalet auf der Alm, in dem sie aufwuchs. Alle weinten, als sie ein Bild der damals noch kindlichen Hilde betrachteten. Leider ist es vernichtet worden – in einem Feuer.
Ach, diese Flammen – sie sind schicksalhaft im Leben der Hilde Schneemann. Als gestandene Künstlerin verbrannte sie einen Großteil ihres Oeuvre selbst. Natürlich ließen es sich zahlreiche Fans im Teenageralter sich nicht nehmen, Schneemanns schmerzlichen, aber radikalen Schritt zu imitieren. Viel Verständnis hat sie nicht für diese Trittbrettfahrer, aber „süß“ findet sie sie trotzdem. Das sei besser, als Drogen zu nehmen oder ungeschützten Geschlechtsverkehr zu haben, betont die Künstlerin und demonstriert so ihr Verantwortungsgefühl gegenüber der Jugend der Welt.
Leider hat eine hochsensible schöpferische Frau wie Schneemann sich aber auch nicht so im Griff wie so genannte normale Menschen. So ist sie in HILDY, HILDY! auch sturzbetrunken zu erleben. Auch ihr Prager Galerist – in Tschechien feierte sie ihre größten Erfolge – bedauert indirekt eine gewisse Labilität ihres Wesens. Jetzt, wo er eine umfassende, erneute Ausstellung von Hildys Werken plant, ist die medienscheue Ausnahmekünstlerin verschwunden: abgetaucht, unauffindbar. Am Ende des Films lässt sie uns – in den letzten von ihr überlieferten Aufnahmen – mit einem Spaziergang durch den Berliner Szene-Bezirk Kreuzberg an ihrem Schaffensprozess teil haben. Eine achtlos auf dem Weg liegen gelassene Babysocke inspiriert sie ebenso wie Häuserfassaden, die sie kunstvoll verfremdet in ihr fotografisches Werk einfließen lässt.
Hoffen wir, dass Hilde Schneemann ihre Flucht vor der Welt nur als ein vorübergehendes Innehalten versteht. Oder, wie Regisseurin Miriam Hutter sagt: „Eher stelle ich sie mir in einer Höhle sitzend und am nächsten Projekt bastelnd vor, während sie sich ins Fäustchen lacht.“
Miete Steinmann