Berlinale-Splitter 4: Bären und Bilanz

     |    Monday, der 17. February 2014

Nun sind die Bären vergeben, und der Berlinale-Liebling „Boyhood“ hat das Rennen nicht gemacht. Ist es der Fluch des Favoriten? Oder sollte man nicht einfach – Sotschi oblige – eine faire Sportsperson sein und die Entscheidung der unabhängigen Jury akzeptieren? Immerhin hat „Boyhood“, der einzige Film, über den auf der Berlinale nicht einmal notorische Querdenker, überkritische Kritiker oder Sich-Gern-Unterscheider gemeckert haben, einen nicht ganz unbedeutenden Trostpreis in Form des Silbernen Bären für die Beste Regie bekommen. Regisseur Richard Linklater war die Enttäuschung bei der Preisübergabe deutlich anzumerken. Auch etliche Pressevertreter und Zuschauer werden insgeheim ein Tränchen verdrückt haben, aber: Spielregeln sind Spielregeln.

Gewonnen hat Asien, allen voran China, das in Berlin schon länger auch auf filmischem Gebiet eine Supermacht ist. Das Nachsehen hatte das für die Berlinale typische so genannte engagierte Kino. Einige kuriose Verdikte waren auch dabei, etwa jenes, den Alfred-Bauer-Preis „für einen Spielfilm, der neue Perspektiven eröffnet“ an einen 91-Jährigen zu vergeben. Zwar hat der französische Altmeister Alain Resnais Großes für die siebente Kunst geleistet, aber sein gefilmtes Theaterstück „Aimer, boire et chanter“ gehört zu seinen weniger überzeugenden Werken. Zumal er damit eines seiner eigenen Prinzipien, nämlich das offensive Bekenntnis zu theatralischer Künstlichkeit, recyclet und eine Art Coverversion seines Films „Smoking/No Smoking“ (1993) gedreht hat.

Innovativer war da schon die Form von „Kreuzweg“, Dietrich Brüggemanns Drama in 14 Einstellungen über den Leidensweg eines Mädchens, das an den Geboten ihrer erzkatholischen Sekte zugrunde geht. Dass ausgerechnet das Drehbuch den Preis erhielt, mag überraschen, doch immerhin wurde mit diesem Film der originellste von vier Wettbewerbsbeiträgen aus Deutschland ausgezeichnet. Mit dem Großen Preis der Jury, quasi der Silbermedaille der Berlinale, bedachte die Jury tatsächlich eine Komödie: „The Grand Budapest Hotel“, den quietschbunten, amüsanten und vor Einfällen (und Mätzchen) überbordenden Opener des Festivals.

In einem Fantasie-Hotel eines Fantasie-Städtchens eines Fantasie-Staates in Mitteleuropa spielend, wartet Wes Andersons neuester Streich mit einem grandiosen Cast auf, darunter einem – zur Abwechslung einmal wirklich komischen! – Ralph Fiennes als snobistischem Ober-Concierge Monsieur Gustave, Tilda Swinton als seiner über 80-jährigen Geliebten (Monsieur Gustave: „Ich hatte auch schon ältere…“) sowie Harvey Keitel, Bill Murray, Mathieu Amalric, Saoirse Ronan, Jeff Goldblum oder Edward Norton. Außerdem absolviert Willem Dafoe darin als Nosferatu-gleicher Mafioso einen so witzigen wie gruseligen Abfahrtslauf auf Skiern, der sämtliche derzeitigen Sotschi-Ski-Künstler alt aussehen lässt.

Man mag sich wundern, warum fast alle Filme mit einem politischen oder gesellschaftskritischen Anspruch übergangen wurden. Darunter gab es auch durchaus sehenswerte, neben „Jack“ auch das in einer Wiener Flüchtlingssiedlung spielende Drama „Macondo“ (Regie: Sudabeh Mortezai) über einen 11-Jährigen vaterlosen Asylsuchenden aus Tschetschenien (der auch sehr gut in die Sparte der Berlinale-Kinderdrama-Filme passt) oder das packende und desillusionierende Nordirland-Drama „’71“ von Yann Demange.

Mit dem Preis für die Beste Schauspielerin wurde die Japanerin Haru Kuroki für ihre Rolle als Dienstmädchen in Yoji Yamadas „The Little House“ geehrt. Die Silbernen Bären für den Besten Schauspieler (Fan Liao für „Black Coal, Thin Ice“) und die Beste Kamera (Zeng Jian für „Blind Massage“) gingen nach China, das als großer Gewinner ebenfalls den Goldenen Bären abräumte: Yinan Diaos „Bai Ri Yan Huo“, hier mit „Black Coal, Thin Ice“ übersetzt, bedeutet auf Mandarin eigentlich „Tagesfeuerwerk“. Selbiges wird ganz am Ende dieses düsteren Krimis entzündet. Von wem, kann man sich zu diesem Zeitpunkt denken, auch wenn der betrunkene Urheber nicht explizit gezeigt wird.

Ein Alkoholproblem hat in „Bai Ri Yan Huo“ der Protagonist Zhang Zili, ein Bulle, der nach einer Ermittlungspanne in einem Mordfall suspendiert wird und fünf Jahre später wieder darin involviert ist. Die Details der Morde könnten sich in ihrer fantasievollen Grausamkeit auch im skandinavischen Norden zutragen, zumal der Film weitestgehend im Winter spielt (hierin wäre er auch in der Kategorie der Berlinale-Schnee-Filme zu Hause). Leichenteile werden gefunden: ein abgetrennter Arm auf einem Kohleförderband hier, ein wenig appetitlich in einer Suppe schwimmendes Auge dort. Die schöne und mysteriöse Femme Fatale des Films erinnert an Vorbilder des amerikanischen Film Noir der Vierzigerjahre, während der Polizist Zhang an einen abgewrackteren Philip Marlowe gemahnt. Gemordet wird hier slashermäßig mit den Kufen von Schlittschuhen, und auch einige markante Szenen spielen auf dem Eis, etwa wenn der Mörder dem töricht mit Normalschuhen auf dem Eis trabenden Ex-Bullen im wahrsten Sinnen des Wortes auf seinen Eislaufschuhen entgleitet. Verschneite Gassen und Autobahnen, nur von schneeumrieselten Laternen beleuchtet, verstärken die Tristesse dieses Films, der kein schmeichelhaftes Bild der chinesischen Gesellschaft entwirft.

So hat „Bai Ri Yan Huo“ starke Momente, auch wenn er nicht der beste Film des Wettbewerbs war. Doch die Bären-Vergabe liegt nun einmal in der Hand der Jury, und dass deren Präsident James Schamus – als Produzent und Drehbuchautor mehrerer Filme von Ang Lee – nicht nur cinephil, sondern auch sinophil ist, hat er mit seiner diesjährigen Goldenen-Bären-Entscheidung demonstriert.

Kira Taszman
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