Anbaggern als Rezept: Stiller Frühling

     |    Monday, der 15. December 2014

still8_3 KopieSebastian ist nicht gerade das, was man einen Mann der Tat nennt. Der 21-Jährige driftet vor sich hin und denkt seit zwei Jahren darüber nach, ob er sich an der Uni einschreiben soll. Eine Freundin hatte er auch noch nie. Sebastian, anrührend und komisch dargestellt von Tom Lass, ist der Protagonist von STILLER FRÜHLING, dem mittellangen Spielfilmdebüt von Nico Sommer. Ihn begleitet die Kamera überall hin: in seine Wohnung, zu den Sitzungen bei seiner Therapeutin oder zu den Begegnungen mit seinem Opa, der sein bester Freund und Berater ist.
Sebastians fehlende Erfahrung mit dem weiblichen Geschlecht setzt ihm arg zu. Bewundernd, aber auch neidisch, hört er zu, wenn sein Opa (großartig: Thorsten Kaphahn) ihm von seinen verflossenen Weibergeschichten erzählt. Ihn fragt Sebastian vorsichtig aus und erfährt so einiges über die Temperamente von Mädchen, die verschiedene Beschaffenheit weiblicher Brüste und die „do“s und „don’t“s beim Anbaggern von Frauen.
still1Auch bei seiner Therapeutin holt er sich Rat. Bei ihr absolviert er eine Brülltherapie zum Steigern des Selbstbewusstseins oder improvisiert den einen oder anderen Anmachspruch. Da sie sich allesamt als hochpeinlich und untauglich erweisen, was die Therapeutin mit einem Lachkrampf quittiert, übt er die Rollenspiele dann doch lieber mit Opa. Sebastians Problem: Er denkt, es gäbe Rezepte zum Aufreißen, er sucht den perfekten Spruch. Als er dann endlich zur Tat schreitet – er spricht Mädchen spontan auf der Straße an – stellt er sich so dämlich an, dass das Fremdschämpendel des Zuschauers heftig nach oben ausschlägt.
STILLER FRÜHLING ist Nico Sommers Abschlussfilm an der Kunsthochschule Kassel und gewann beim Kasseler Dokumentar- und Videofest den „Goldenen Herkules“. Der Film ist ein so charmanter wie gelungener Pseudo-Dokumentarfilm, der den Helden oft direkt in die Kamera sprechen lässt. Durch die Direktheit und Unmittelbarkeit des Werks vergisst man zuweilen, dass es sich um einen Spielfilm handelt. Dennoch weiß Sommer seine Pointen durch verbalen Witz und den Schnitt sehr wohl zu setzen und benutzt auch gezielt das Stilmittel der Überzeichnung, ohne aus dem hyperrealistischen Stil auszuscheren.
Mit Tom Lass hat er einen Darsteller gefunden, der sympathisch ist und die Verlorenheit seiner Figur sehr überzeugend vermitteln kann. Als weltfremder Sebastian erzeugt Lass Sympathie, Mitleid und Ungeduld zugleich – zu oft möchte man dem jungfräulichen Grübler einfach nur in den Allerwertesten treten. Auch Berlin als Schauplatz wird dezent in den Film eingebunden. Sebastians Mutter ist in schönstem schnoddrigem Berlinerisch zu hören, das Spreeufer in Treptow wiederum dient als Kulisse für Sebastians Gespräche mit dem Opa. So ist STILLER FRÜHLING eine Berliner Coming-of-Age-Fiktion mit Herz und Humor, die verblüffend authentisch wirkt.
Kira Taszman

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